Warum man als Nichtw�hler kein schlechtes Gewissen haben muss
„Wer nicht zu einer Wahl geht, sollte 50 Euro Strafe zahlen, Demokratie ohne Demokraten funktioniert nicht", empfahl der SPD-Bundestagsabgeordnete J�rn Thie�en am 8. Juni in einer gro�en deutschen Boulevard-Zeitung.
Angesichts des offenkundigen Ausl�sers — seine „Volkspartei" hatte tags zuvor katastrophale 21 Prozent bei der Europawahl eingefahren — mag man ihm diese Unversch�mtheit nachsehen. Bei seinem Parteichef, dem Vollblutpolitiker Franz M�ntefering, geht das nicht. Der legte n�mlich in einem Interview mit der Welt am Sonntag nach und warf den Nichtw�hlern mangelhaftes Verantwortungsbewusstsein f�r unsere Demokratie vor. Menschen, die ihr grundgesetzlich garantiertes Recht auf Teilnahme an Wahlen nicht wahrnehmen wollen, k�nnen genau diese Entscheidung aber sehr viel (verantwortungs)bewusster geplant haben als viele Gewohnheitsw�hler. Vielleicht sind sie nicht zur Wahl gegangen, weil sie die SPD, seit M�ntefering dort ma�geblich die Richtung mitbestimmt, nicht wiedererkennen, eine ande�re Partei aber nicht w�hlen wollen? Weil sie M�nteferings Anteil an den Folgen der neoliberal gepr�gten Agenda 2010 kennen (freie Hand der Wirtschaft; die Interessen und das Wohl des B�rgers werden dem untergeordnet), aber nicht mitverantworten wollen?
M�ntefering ist nicht zu trauen. Als die hessischen „Parteirebellen" Andrea Ypsilanti nicht w�hlen wollten, trat er f�r das freie Mandat von Abgeordneten ein. In den Jahren zuvor hatte er genau dieses freie Mandat immer wieder mit F��en getreten, als er bei Abstim�mungen etwa zum Kosovo-Krieg oder beim Misstrau�ensantrag gegen den „eigenen" Kanzler Schr�der seine Abgeordneten zu Wohlverhalten zwang.
In dem genannten Interview zog der SPD-Vorsitzende bei der Feststellung, dass immer mehr Menschen sich von den Parteien abwenden, �ber „Finanzhaie" her und beklagte, „dass bestimmte Teile der Wirtschafts- und Finanzwelt den Wohlstand und die Sicherheit der Menschen leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben und weiter setzen. Das besch�digt das Vertrauen in die Demokratie und in die Politik. Demokratie geht aus von der Gleichwertigkeit der Menschen und dass man akzeptiert, dass Menschen nicht mit Geld �ber andere Menschen herrschen d�rfen. Wir erleben was anderes und sind entr�stet. Die W�hlerinnen und W�hler auch." Ein typischer M�ntefering: wahltaktisch vergossene Krokodilstr�nen, an denen viel Wahres ist, der ent�scheidende Punkt aber fehlt. Die wichtigsten finanzpolitischen Weichen zu dieser demokratiefeindlichen Entwicklung wurden n�mlich unter kr�ftiger Mitwirkung M�nteferings und des heutigen SPD-Kanzlerkandidaten Steinmeier gestellt. (Man darf in diesem Zusammen�hang auch einmal darauf hinweisen, dass die SPD seit 11 Jahren den Finanzminister stellt.) M�ntefering hat seine Partei so gef�hrt, dass sie ihren Daseinszweck verloren hat. Sie weigert sich, wieder ihren eigentlichen Platz im Parteienspektrum einzunehmen, damit die B�rger eine wirkliche Wahl haben — neoliberal, das k�nnen FDP und CDU bedeutend besser.
Vielleicht sollte sich M�ntefering einmal mit der Analyse des Parteienforschers Franz Walter besch�ftigen. Der G�ttinger Professor definiert in einem Beitrag f�r Spiegel Online die Kennzeichen sogenannter Allerweltsparteien. Sie werfen „ideologischen Ballast" ab und peilen allesamt die sogenannte „Mitte" an: „Um in der Mitte Punkte und Stimmen zu sammeln, haben die neuen Allerweltsparteien seit dem Ende des letzten Jahrhunderts Spin-Doktoren engagiert, Marketingberater hinzugezogen, Tele-Experten f�r ihre Spitzenfiguren konsultiert. Es galt in den vergangenen Jahren als Modernit�t schlechthin, der Politik gleichsam das ernsthaft und schwere Politische zu nehmen — damit sie besser passen zu den anderen Angeboten der Zerstreuungsin�dustrie f�r den Konsumenten/W�hler. Kaum etwas hat die reale Mitte der Gesellschaft derart abgesto�en wie ebensolche Entm�ndigungsstrategien. Die Milieuforschung hat geradezu bedr�ckende Belege daf�r geliefert, wie sehr die Mitte inzwischen davon �berzeugt ist, dass man in Deutschland sukzessive [nach und nach] in nachdemokratische Zust�nde trudelt. Allerdings protestiert die Mitte dagegen nicht; sie organisiert keine De�monstrationen, formuliert keine Protestpamphlete. Die Mitte bleibt einfach weg, macht nicht mehr mit, wendet sich — gleichg�ltig fast — von der politischen Arena ab." Die Reaktion der b�sen Nichtw�hler und den beklagten Schaden f�r die Demokratie hat M�ntefering sich daher auch selbst zuzuschreiben!
topic
|